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20.04.2024, 00:04 Uhr

Otto König/Richard Detje: Antikriegstag 1. September 2018 – für nukleare Abrüstung

Finger weg von der Bombe

  • 31.08.2018
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Die internationale Nachkriegsordnung ist aus den Fugen geraten. Die Hoffnung, dem Ende des Kalten Krieges würde ein Zeitalter der Entspannung, Abrüstung und Friedenssicherung folgen, hat sich früh als Illusion erwiesen. Rund um den Globus toben mehr als 30 »regionale« Kriege, etliche davon mit geopolitischen Dimensionen. »Auch die nukleare Bedrohung hat eher zu- als abgenommen. Die USA und Russland »modernisieren« ihre Atomwaffenarsenale. Nuklearmächte wie China, Nordkorea, Indien und Pakistan tragen dazu bei, dass wir erneut ein nukleares Wettrüsten erleben«, heißt es im Aufruf des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) zum Antikriegstag 2018.

Die Atombombenabwürfe der USA auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki jähren sich in diesem Jahr zum 73. Mal. Rund 140.000 Menschen fielen am 6. August 1945 in Hiroshima den Druck- und Hitzewellen zum Opfer. Nur drei Tage starben rund 70.000 Menschen in Nagasaki. Unter den Spätfolgen der radioaktiven Strahlung leiden noch heute Tausende Menschen. Ungeachtet der mahnenden Worte der Überlebenden gefährden die Nuklearmächte durch ihre Abkehr vom Abrüstungspfad den Atomwaffensperrvertrag (NPT). Der Niedergang des über 30 Jahre alten Vertrages über das Verbot bodengestützter Mittelstreckenraketen zeugt ebenso wie die zerbröckelnde europäische Rüstungskontrolle davon, dass internationale Vereinbarungen zunehmend entwertet werden.

Im Atomwaffenstatusbericht »Nuclear Posture Review« vom Februar 2018 kündigte die Trump-Administration in Washington an, »alle strategischen Systeme zu ersetzen, atomare Gefechtsköpfe mit niedriger Sprengkraft zu beschaffen, die Reichweite luftgestützter Marschflugkörper zu erhöhen und seegestützte substrategische Systeme nuklear zu bewaffnen.«[1] Ziel der US-amerikanischen Nukleardoktrin ist es, der unterstellten Bedrohung durch Russland, China, Nordkorea und Iran mit globaler militärischer Dominanz zu begegnen. »Um die militärische Vorherrschaft (supremacy) Amerikas zu erhalten, müssen wir stets auf dem neusten Stand sein«, so der US-Präsident Mitte August vor Tausenden Soldaten der 10. Gebirgsjägerdivision auf dem Stützpunkt Fort Drum rund 400 Kilometer nordwestlich von New York. Durch vielfältige, abgestuft einsetzbare nukleare Optionen sollen im Rahmen der Strategie der »erweiterten Abschreckung« die vermeintlichen Aggressoren in Schach gehalten werden.

Was nach Miniaturisierung und Flexibilisierung klingen soll (»Mini-Nukes«), ist erstens ein gewaltiges nukleares Rüstungsprogramm. Götz Neuneck vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg: »Der exakte Wortlaut ist ›low yield nuclear weapon‹. Also es geht hier nicht um die Größe der Waffe selbst, sondern es geht um die Sprengkraft. Als eine ›low yield nuclear weapon‹ bezeichnet man Nuklearwaffen, die eine Ladung von weniger als 20 Kilotonnen haben. 20 Kilotonnen sind 20.000 Tonnen TNT-Äquivalente mit drei Zerstörungswirkungen, nämlich Druckwelle, Hitzewelle und radioaktivem Fallout. Es sind sozusagen Waffen vom Hiroshima-Typ.«[2] Diese Waffen gibt es bereits – nach Schätzung der Hamburger Friedensforscher rund 1000 in US- und weitere 200 in NATO-Beständen, meist als frei fallende Bomben, demnächst auch als Marschflugkörper. Der Begriff der »Modernisierung« kaschiert insofern eine Politik der Aufrüstung – mit der Gefahr eines neuen Wettrüstens.

Diese Waffen fügen sich – zweitens – ein in eine neue Strategie. Deren Doktrin geht weit über die Kernfunktion strategischer Atomwaffen hinaus, nämlich die gegenseitige Abschreckung der etablierten Kernwaffenstaaten vor einem nuklearen Erstschlag. Stattdessen suggeriert sie einen Kernwaffeneinsatz zum Schutz von Alliierten unterhalb der Schwelle des strategischen Vernichtungsrisikos. Dies erlaube es, einen Krieg zu »erträglichen Konditionen« zu beenden. Der US-Senat hat jüngst mit der Verabschiedung eines Rüstungshaushalts in Höhe von 716 Milliarden Dollar (rd. 627 Milliarden Euro) die Voraussetzungen für diese Strategie geschaffen. Für Donald Trump handelt es sich um »die bedeutendste Investition in unser Militär und in unsere Kämpfer in der neueren Geschichte«. 400 Milliarden US-Dollar soll allein die nukleare Um- und Aufrüstung bis 2026 verschlingen.

 

 

Deutschland ist über die Nato in das nukleare Abschreckungssystem eingebunden. Dazu heißt es im Koalitionsvertrag 2018 von Unionsparteien und SPD: »Solange Kernwaffen als Instrument der Abschreckung im strategischen Konzept der Nato eine Rolle spielen, hat Deutschland ein Interesse daran, an den strategischen Diskussionen und Planungsprozessen teilzuhaben.« Zur nuklearen Teilhabe gehört bis dato die Fähigkeit zum Einsatz der im rheinland-pfälzischen Fliegerhorst Büchel gelagerten 20 US-amerikanischen Atombomben des Typs B61, die ggf. durch deutsche Tornado-Piloten abgeworfen werden. Diese Waffen werden aktuell gemäß der neuen US-Nuklearstrategie modernisiert, indem sie durch zielgenauere, elektronisch gesteuerte Atomwaffen mit variabler Sprengkraft und vergrößerter Reichweite ersetzt werden.

Als Union und SPD fünf Jahre zuvor die Große Koalition vereinbarten, stand im Koalitionsvertrag noch der Satz: »Erfolgreiche Abrüstungsgespräche – zwischen den USA und Russland – schaffen die Voraussetzung für einen Abzug der in Deutschland und Europa stationierten taktischen Atomwaffen.« Das war nicht viel, aber immerhin etwas. Heute hält die Bundesregierung entgegen dem Mehrheitswillen in der Bevölkerung und trotz eines parteiübergreifenden Beschlusses des Bundestages aus dem Jahr 2010 an der Stationierung der Atombomben in Deutschland fest und lässt die Bundeswehr regelmäßig den Atomwaffeneinsatz für den Ernstfall trainieren.

Tatsächlich sind die Ambitionen, an eigene Atomwaffen zu gelangen, nahezu so alt wie die Bundesrepublik selbst.[3] Die erneute Debatte um eine deutsche Atombewaffnung hatte der Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Berthold Kohler, im November 2016 angestoßen. Nach der Infragestellung der Bündnispolitik durch Trump hat sie neuen Auftrieb bekommen: »Ein Deutschland hingegen, das die Macht von Putins Russland begrenzen will, um unabhängig und damit politisch unbeugsam ein Europa aufrechtzuerhalten, das unseren innen- und außenpolitischen Handlungsspielraum erhält, muss dies militärisch und damit nuklear tun. Alles andere ist Illusion«, erklärte der Politikwissenschaftler Maximilian Terhalle im Debattenportal des Tagesspiegel (23.1.2017). Die Bundesrepublik müsse erstmals seit 1949 ohne nuklearen Schutzschirm der USA auskommen, deshalb solle Deutschland »zukunftsorientiert denken und handeln«, damit »jeder potentielle Angreifer nuklear abgeschreckt werden« könne, sekundierte ihm der Politologe Christian Hacke, der an der Universität der Bundeswehr in Hamburg und an der Universität Bonn lehrte.

Was tatsächlich notwendig ist, ist eine Abkehr Deutschlands von der US-Doktrin der nuklearen Abschreckung. Die weitere Reduzierung der derzeit ca. 15.000 Atomwaffen in der Welt muss auf der politischen Agenda bleiben. »Wir können nicht zulassen, dass diese Weltuntergangswaffen unsere Welt und die Zukunft unserer Kinder gefährden«, erklärt UN-Generalsekretär António Guterres.

Die im vergangenen Jahr in Oslo mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Anti-Atomwaffen-Initiative ICAN trommelt weiterhin für ein weltweites Verbot von Atomwaffen, das von 122 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen durch die Unterzeichnung des »UN Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons« unterstützt wird. Darunter ist allerdings keine einzige Atommacht und auch kein Nato-Staat – außer den Niederlanden. Immerhin enthielten sich China, Indien und Pakistan, die Atomwaffen besitzen, bei der Abstimmung.

Mit diesem Atomwaffenverbots-Vertrag verpflichten sich die Vertragsstaaten, keine Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper

- einzusetzen oder ihren Einsatz anzudrohen,

- zu entwickeln, zu erproben und herzustellen oder auf andere Weise zu erwerben, zu besitzen oder zu lagern,

- und die Stationierung von Kernwaffen auf dem eigenen Hoheitsgebiet nicht zu gestatten.

Der Vertrag müsste von 50 Ländern ratifiziert werden, um dann 90 Tage später in Kraft treten zu können.

Die weltweite Null-Option muss das Ziel bleiben. Es bedarf neuer Initiativen, die für die großen Nuklearmächte diskussionswürdig sind. Gerade Deutschland müsste 79 Jahre nach dem Überfall der Wehrmacht auf Polen und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges mit über 50 Millionen Toten ein Zeichen in Richtung denuklearisierender Politik setzen und – beispielsweise – das Stationierungsabkommen für die Lagerung der US- Atomwaffen in Deutschland aufkündigen. Ein erster Schritt dazu wäre der Beitritt zu dem von 122 Staaten beschlossenen UN-Verbotsvertrag von Atomwaffen.[4] Das wäre zunächst nur ein Symbol, aber immerhin ein aussagekräftiges.

Was am 1. September 2018 neben den nuklearen Aufrüstungsstrategien zu bedenken ist: In keinem Jahr nach dem Ende des Kalten Krieges wurde so viel in Rüstung investiert wie 2017. Die Rüstungsetats stiegen weltweit auf 1739 Milliarden US-Dollar – umgerechnet 230 Dollar pro Erdenbewohner. Und: In der Rangliste der größten Waffenexporteure liegt Deutschland hinter den USA, Russland und Frankreich auf Platz 4, wie das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI im Jahresbericht 2018 berichtet. Auch dies ist ein Beitrag zur Aufrüstung in einer aus den Fugen beratenen Welt.

 

 


[1] Vgl. Wolfgang Richter: Erneuerung der nuklearen Abschreckung, SWP-Aktuell, März 2018.

[2]www.deutschlandfunk.de/us-nuklearstrategie-droht-ein-neues-atomares-wettruesten.676.de.html

[3] Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) bezeichnete den Atomwaffensperrvertrag von 1967 als »Morgenthau-Plan im Quadrat«, eine Anlehnung an amerikanische Überlegungen, Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in einen Agrarstaat umzuwandeln. Die USA begannen 1955 atomare Kurzstrecken-Raketen in der Bundesrepublik zu stationieren. Die deutsche Öffentlichkeit erfuhr davon 1957, als Adenauer erklärte, diese Atomwaffen seien »nichts weiter als die Weiterentwicklung der Artillerie«. 1958 forderte die CDU-CSU Mehrheit des Bundestages die atomare Bewaffnung der Bundeswehr. Für Bündnisse wie »Kampf dem Atomtod«, in denen sich Vertreter der Gewerkschaften, der sozialdemokratischen Opposition und Kirchen zusammenschlossen, hatte der CDU-Politiker wenig übrig. Auf christdemokratische Ablehnung stießen auch die 18 deutschen Atomforscher, die 1957 im »Göttinger Manifest« eindringlich vor der nuklearen Gefahr warnten.

[4] Eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung – 71% – haben sich in einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts You-Gov dafür ausgesprochen, dass Deutschland dem internationalen Vertrag zum Verbot von Atomwaffen beitritt, der ab dem 20. September bei den Vereinten Nationen zur Unterzeichnung ausliegt.


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