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28.03.2024, 11:03 Uhr

Otto König/Richard Detje: Münchner Sicherheitskonferenz – EU auf dem Weg zu »Weltpolitikfähigkeit«

Welt am Abgrund – weiter vorwärts!

  • 01.03.2018
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»An den Abgrund – und zurück?« war die 54. Sicherheitskonferenz in München (MSC) überschrieben. Im vorab gelieferten Munich Security Report »To the Brink and Back«, der die Vorlagen für die Tagung liefern sollte, wird auf die erodierende internationale Ordnung verwiesen und beklagt, dass es seit dem Ende der Sowjetunion keine Zeit gegeben habe, die gefährlicher gewesen sei. Die Antwort der meisten teilnehmenden Regierungsvertreter*innen und hochrangigen Militärs lautete gleichwohl: »Weiter vorwärts!«

Im transatlantischen Bündnis bestehen unterschiedliche Strategieansätze. Die »Renaissance von Nationalismus und Protektionismus« stellt eine gemeinsame Politik infrage. Um diese gleichwohl zu befördern, wurde die »Abgrund«-Metapher mit einer klaren Frontstellung versehen: Es sind China und Russland, die die »liberale Weltordnung« herausfordern, mit ihrer Propaganda Zwietracht unter den westlichen Staaten zu sähen versuchen und ein neues Wettrüsten vorantreiben. Der MSC-Vorsitzende Wolfgang Ischinger verwies schon vor der Eröffnung des Forums der Vertreter*innen des »Who is who« des internationalen Militärisch-Industriellen Komplexes auf eine Studie der Denkfabrik Rand Corporation, die eine Überlegenheit Russland in allen Waffengattungen – außer bei Kampfjets – konstatiert.


Die Debatte auf der Konferenz war weitgehend bestimmt von konfrontativer Rhetorik, Aufrüstungszielen und Narrativen zu internationalen Militäreinsätzen bis hin zur Rechtfertigung völkerrechtswidriger Kriege. Die schweren geopolitischen Konflikte wurden mit Worthülsen kaschiert. Besonders aus dem Umfeld der US-Administration wurden Überlegungen angestellt, wie man einen »Nuklearkrieg führen, kontrollieren und irgendwie gewinnen« könne, so Trump-Berater Raymond McMaster in München. Schließlich, so heißt es in der »Nationalen Sicherheitsstrategie«  der US-Regierung, seien China und Russland »revisionistische Mächte«, die entschlossen seien, »ihren Einfluss auszuweiten« und dementsprechend »ihre Streitkräfte wachsen zu lassen«. Dabei übertrifft der US-Militäretat seit Jahrzehnten den russischen wie auch den chinesischen um ein Mehrfaches.


Der kommissarische deutsche Außenminister Sigmar Gabriel sieht die aktuelle weltpolitische Entwicklung an einer historischen »Wegscheide«, »wie sie die Welt nur alle paar Jahrhunderte erlebt«. Er beschwor die Gefahr, dass die Welt zu Beginn des Jahres 2018 am Abgrund stehe und identifizierte die Volksrepublik China als »größte Bedrohung für die freiheitliche Weltordnung«, die eine »umfassende Systemalternative zum Westen« entwickele, die nicht wie »unser Modell auf Freiheit, Demokratie und individuellen Menschenrechten gründet«. Seine Mahnung: Jetzt werde entschieden, ob man »den Beginn eines neuen asiatischen Zeitalters (...) und die Selbstaufgabe des Westens« zu konstatieren habe – oder ob »unser Kontinent« den »Mut« aufbringe, »sich den Herausforderungen einer weit unbequemeren und risikoreicheren Welt zu stellen«. Die Charakterisierung der aktuellen Auseinandersetzungen zwischen den Machtblöcken als Kampf zwischen Demokratien und Autokratien knüpft an Begrifflichkeiten an, die schon vor Jahren durch den Apologeten eines »Neuen Kalten Krieges«, Robert Kagan, in die Debatte eingespeist wurde, schreibt Jürgen Wagner in der IMI-Analyse 2018/05.


Für eine »deutsch-europäische Machtpolitik«, die darauf reagieren müsse, liefert die vom Bundeskanzleramt finanzierte Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) die Stichworte.  Deutschland müsse »alles in seiner Macht Stehende tun«, um die EU »als eigenständigen weltpolitischen Machtfaktor (…) zu etablieren«. Nur als Machtfaktor mit eigenständigem Gestaltungspotential habe Europa »eine Chance, die internationale Ordnung zu beeinflussen«.


Hieraus legitimieren sich aus Sicht von Gabriel auch umfassende Maßnahmen zur militärischen Selbstbehauptung. Zwar dürfe sich die gemeinsame europäische »Machtprojektion in der Welt« nie auf das Militärische allein konzentrieren, aber sie dürfe auch nicht darauf verzichten: »Denn als einziger Vegetarier werden wir es in der Welt der Fleischfresser verdammt schwer haben.« Es ist die Fortsetzung der Politik seines sozialdemokratischen Vorgängers Frank-Walter Steinmeier, der 2014 in München die Maxime ausgegeben hatte, Deutschland müsse bereit sein, »sich außen- und sicherheitspolitisch früher, entschiedener und substanzieller einzubringen«.
Vier Jahre später meldet die bundesdeutsche Oberbefehlshaberin Ursula von der Leyen Vollzug: »Wir haben Verantwortung übernommen«. Als Beleg führte sie auf der Konferenz die deutsche Rolle in der Ukraine, die Stärkung der Nato-Ostflanke an der russischen Grenze sowie die Bundeswehreinsätze im Irak, in Syrien und Mali an. Jetzt müsse zum Aufbau militärischer »Fähigkeiten und Strukturen« noch »der gemeinsame Wille« hinzukommen, »das militärische Gewicht auch tatsächlich einzusetzen« – der klare Wille zum kriegerischen Einsatz in weltpolitischen Konflikten.


Mit dieser Positionierung, dass die EU ihre »Machtprojektion« mit ihren eigenen militärischen Mitteln durchsetzen können muss, traf sie bei ihrer französischen Kollegin, Verteidigungsministerin Florence Parly, auf offene Türen. Für Frankreich bedeutet die Forderung nach »strategischer Autonomie« der EU, dass Brüssel perspektivisch in der Lage sein müsse, »Militärinterventionen ohne Rückgriff auf die NATO oder die US-Streitkräfte durchzuführen«.


Die Vertreter der EU und ihrer drei gewichtigsten Mitgliedstaaten, Großbritannien, Frankreich und Deutschland, warben gemeinsam intensiv für eine »weltpolitische« Rolle Europas und die dafür notwendige »Stärkung militärischer Fähigkeiten«. So hob EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker hervor, dass es die von ihm geführte Kommission war, die in jüngster Zeit Druck gemacht habe, um »im letzten Jahr mehr Fortschritte in Sachen Europäische Verteidigungspolitik erreichen zu können als in den letzten 20 Jahren.« Gleichzeitig beklagte er das Konsensprinzip in der Außen- und Militärpolitik der EU: »Diese Einstimmigkeit, dieser Einstimmigkeitszwang hält uns davon ab, Weltpolitikfähigkeit zu erreichen«.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg konnte in München als »wesentlichen Fortschritt« verkünden, dass die Militärbudgets der europäischen NATO-Mitglieder seit 2015 jährlich gestiegen sind und sich im Jahr 2017 nach eigenen Angaben auf 945 Mrd. Dollar belaufen – im Vergleich: 2015 waren es 895 und 920 Mrd. in 2016. Acht Mitgliedsstaaten würden bereits mindestens zwei Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes für das Militär ausgeben, bis 2024 werde damit gerechnet, dass sich die Zahl auf 15 Länder erhöhen werde, die das Zwei-Prozent-Ziel umsetzen. Frankreich will 2020 so weit sein.


Aus US-Sicht ist das nicht mehr als das »absolute Minimum«. Im kürzlich vorgestellten Entwurf für das Haushaltsjahr 2019 sind 686 Mrd. Dollar für »Verteidigung« reserviert – der letzte von Vorgänger Barack Obama verantwortete Haushalt 2017 umfasste »nur« 606 Mrd. Dollar. Obwohl die Rüstungsausgaben Chinas (150 Mrd.) und Russlands (61 Mrd. Dollar Dollar) im Jahr 2017 weit dahinter zurückbleiben, herrschte unter den westlichen Akteuren auf der Konferenz Einigkeit, dass es weiterer Erhöhungen bedürfe. Kämen alle EU-Staaten dieser Forderung nach, würden die Ausgaben der EU-28 (plus Norwegen) von 242 Mrd. Dollar (2017) auf 386 Mrd. Dollar (2024) rasant ansteigen, schreiben die Unternehmensberater von McKinsey im Munich Security Report 2018.


Einen Rüffel setzte Stoltenberg in Richtung Deutschland ab: Die Kürzungen im Wehretat seien zwar gestoppt worden, dennoch bleibe Deutschland deutlich »hinter den Erwartungen der Verbündeten zurück«. Zwar stiegen die Militärausgaben zwischen 2000 und 2018 von 24 Mrd. auf 38,5 Mrd. Euro an, erreichen damit aber »erst« 1,2% des BIP – die Marge von zwei Prozent erfordert eine Verdoppelung des Wehretats auf über 65 Milliarden Euro. Doch die Formulierung im Koalitionsvertrag lässt reichlich Spielraum: Man wolle dem »Zielkorridor der Vereinbarungen in der NATO« und den Militärhaushalt bis 2021 auf mindestens 42,4 Mrd. erhöhen. Ein gutes Signal für jene Leute in den Hinterzimmern des Konferenzhotels Bayerischen Hof, »die miteinander reden, dies (aber) nicht öffentlich sichtbar machen wollen«, so Wolfgang Ischinger. Leute wie der Rüstungslobbyist Claus Günther vom deutschen Luftfahrtausrüster Diehl aus Nürnberg, der schnörkellos erklärte: »Verteidigung kostet Geld und ohne Moos nix los, um das mal deutlich zu sagen«. Die Sicherheitskonferenz ist für die Rüstungsindustrie  ein formidabler Ort zur Geschäftsanbahnung.


Um das Meinungsklima auf die Aufrüstungsziele einzustimmen, wurde erneut zu Beginn der MSC ein »geheimes« internes Papier der Bundeswehr durchgestochen, das wieder einmal das Bild einer maroden, dysfunktionalen Truppe zeichnete (Die Welt, 15.2.2018). Doch nicht genug: Ergänzend beklagte der Wehrbeauftragte des Bundestags, Hans-Werner Bartels (SPD), in seinem Jahresbericht »eine enorme personelle Unterbesetzung« und Mängel beim Material: »Laufende Rüstungsprojekte litten allzu oft unter schleppender Auslieferung, eingeführtes Gerät war zu oft nicht einsatzbereit, Ersatzteile fehlten überall. So sah die Lage bei Flugzeugen und Hubschraubern, Schiffen und U-Booten, bei Panzern und Kraftfahrzeugen im Berichtsjahr aus.«


Seine Mängelliste liest sich wie eine Bestellliste an die Rüstungsindustrie. Wäre da nicht immer noch ein gewichtiger Unsicherheitsfaktor: die Bevölkerung. »Sie ist nicht bereit, mehr Geld für die Soldaten auszugeben: Nur 27 Prozent sprechen sich für mehr Investitionen in Ausstattung und Verteidigung aus«, ist das Ergebnis des »Sicherheitsreports 2018«  des Instituts für Demoskopie Allensbach und der Beratungsgesellschaft Centrum für Strategie und Höhere Führung. Aufrüstung bleibt ein umkämpftes Thema.

Anmerkungen:

[1] Wie in den Vorjahren wird die halb-offizielle Konferenz der »Stiftung Münchner Sicherheitskonferenz (gemeinnützige) GmbH« vom Presse- und Informationsamt aus einem vom Verteidigungsministerium bereitgestellten Etat für »sicherheitspolitische Öffentlichkeitsarbeit« mit 500.000 Euro gesponsert. Nach den Berechnungen der Linksfraktion lässt sich die Bundesregierung die Konferenz insgesamt mehr als 850.000 Euro kosten. Denn die Bundeswehr stellt zusätzlich rund 230 Angehörige als Helfer*innen ab, die bei der Organisation des Transports, beim Dolmetschen und beim Sanitätsdienst zum Einsatz kommen. Hinzu kommen mehr als 60 Feldjäger für den Personen- und Begleitschutz.

[2] National Security Strategy, Washington, Dezember 2017.

[3] Hanns W. Maull (Hrsg): Auflösung oder Ablösung? Die internationale Ordnung im Umbruch. SWP-Studie S 21. Berlin, Dezember 2017.

[4] Das lassen sich die Waffenschmieden wie Krauss-Maffei Wegmann, MBDA, Raytheon, Hensoldt oder Lockheed Martin etwas kosten. Sie gehören auch in diesem Jahr zu den Sponsoren der MSC.

[5] Für den Sicherheitsreport befragte Allensbach von Anfang bis Mitte Januar 2018 1200 repräsentativ ausgesuchte Bürger ab 16 Jahren.

 


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