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29.03.2024, 09:03 Uhr

Otto König/Richard Detje: »March For Our Lives« – Jugend in den USA begehrt gegen Waffenwahn auf

#Neveragain

  • 05.03.2018
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Als ein 19-Jähriger in der Marjory Stoneman Douglas High School in Parkland (Florida) Anfang Februar mit einem Schnellfeuergewehr 17 Menschen ermordet hatte, sah es zunächst danach aus, als setze die übliche heuchlerische Routine ein: Kerzen anzünden, Kuscheltiere niederlegen, Ansprache des US-Präsidenten, der die Opfer, Angehörigen und Überlebenden in seine Gedanken und Gebete einschließt, Forderung der Demokraten endlich härtere Waffengesetze zu verabschieden und Antwort der Republikaner und der Waffenlobby, kein Gesetz könne diese Taten verhindern und die Verfassung garantiere jedem Bürger das Recht auf Selbstschutz.

Anschließend verschwindet das Thema aus der öffentlichen Wahrnehmung wie zuletzt nach den Morden in Las Vegas im vergangenen Herbst.
Doch dieses Mal ist etwas anders: Jugendliche Überlebende des Schulmassakers wollen nicht mehr leise trauern, ihr Schicksal tatenlos hinzunehmen. Sie treten vor die Kameras der Fernsehsender, stellen Politiker wegen ihrer Untätigkeit an den Pranger und machen mobil. Auf Demonstrationen, Facebook, Twitter, Instagram und Snapchat fordern sie unter dem Hashtag #NeverAgain eine Verschärfung der Waffengesetze in den USA.


Es sind junge Menschen wie die 18-jährige Emma Gonzalez, die das Massaker überlebt hat und zwei Tage nach dem Amoklauf auf der Gedenkfeier in Parkland, einem Ort zwischen Palm Beach und Fort Lauderdale in Florida, in einer kämpferischen und ergreifenden Rede Donald Trump und jenen Politikern, die Geld von der Waffenlobby National Rifle Association (NRA) kassieren, zurief: »Shame on you« – Schande über euch. »Wenn sie sagen, schärfere Waffengesetze werden Waffengewalt nicht verhindern, dann rufen wir: BS« (»bullshit«). Damit traf sie das Gefühl einer Generation, die sich von den politisch Verantwortlichen im Stich gelassen fühlt, die nichts unternehmen, um den Zugang zu Schusswaffenbesitz stärker zu reglementieren und Kriegswaffen wie das AR-15 Schnellfeuergewehr aus dem Handel zu verbannen.


Die Schüler*innen, die der Protestbewegung ein Gesicht geben, gehören zu jener Generation, die nach dem Amoklauf an der Columbine High-School in Colorado im Jahr 1999, bei dem 15 Menschen ermordet wurden, geboren ist, das die Gefährdung der Bildungseinrichtungen erstmals ins öffentliche Bewusstsein brachte. Metalldetektoren und »safety drills« gehören seither selbst an Grundschulen zur Ausrüstung. Trotzdem gab es, so die Washington Post, seit Columbine mindestens 170 »school shootings« mit mehr als 150.000 betroffenen Kindern.


Es ist zu früh, um zu beurteilen, ob sich aus dem Protest ein »Aufstand der Jugend« entwickelt, wie die Ikone der Bürgerrechtsbewegung, Joan Baez, meint. Doch möglicherweise erleben die USA gerade die Geburt einer neuen Protestbewegung, die für die Politik schwer zu kalkulieren ist und für die Hardliner der NRA endlich zu einem ernsthaften Problem werden könnte. Vor allem wenn es gelingt, am 21. März mit über 500.000 Gleichgesinnten auf dem »March of our lives« in Washington  die Kongressabgeordneten »zu beschämen«.


Der Protest der Schüler*innen hat schon jetzt bewirkt, dass US-Präsident Donald Trump sich nicht damit begnügen kann, ein paar Tweets rauszuhauen, sondern sich gezwungen sah, Überlebende von Schulmassakern und Angehörige von Opfern in Columbine, Newtown, Parkland zu einer »Listening Session« ins Weiße Haus einzuladen. »I hear you«, hatten ihn seine Berater auf einen Spickzettel schreiben lassen. Doch davon konnte keine Rede sein.  Stattdessen machte er den abstrusen Vorschlag: »Waffen für Lehrer«.  Das Treffen wurde als Testlauf für einen Aktionsplan missbraucht, Amerikas Klassenzimmer aufzurüsten.


»Shoot-out« in der Schule: Lehrer mit dem Colt im Halfter sollen unterrichten, um im Fall des Falles schnell ihre Waffe zu ziehen und einen womöglich mit dem Schnellfeuergewehr um sich feuernden Amokläufer zur Strecke bringen. Damit folgt Trump dem NRA-Leitspruch: »Das einzige, das einen bösen Menschen mit einer Waffe stoppen kann, ist ein guter Mensch mit einer Waffe.« Das ist mehr als der übliche Wild-West-Mythos – schließlich diente das Waffenrecht in der Geschichte der USA auch dazu, um die indigenen Bewohner zu vertreiben, die Macht zu festigen und Sklaven zu kontrollieren, also um Revolten von unten zu unterdrücken.


Doch der Jugendprotest zeigt erste Wirkung. Trump ist unter Druck geraten, wie launisch oder nachwirkend, werden die weiteren Proteste zeigen. Bei einem Treffen mit Kongressmitgliedern zeigte er sich überraschend offen für strengere Waffengesetze: um künftig potenzielle Waffenkäufer umfassender überprüfen, psychisch Kranken den Waffenbesitz erschweren und das Mindestalter für den Erwerb von Gewehren auf 21 Jahre anheben zu können. Er habe das Justizministerium angewiesen, ein Dekret auszuarbeiten, um sogenannte »bump stocks«, Aufsätze, die aus halbautomatischen vollautomatische Waffen machen, verbieten zu können (Spiegel online, 1.3.2018). Mit Blick auf seine Freunde von der NRA, die seinen Wahlkampf 2016 direkt und indirekt mit insgesamt 31 Millionen Dollar unterstützt hatten, erklärte der Präsident, das seien »great people«, was jedoch nicht hieße, »dass man ihnen immer recht geben muss.« Währenddessen fabuliert NRA-Chef LaPierre von Sozialisten, die Universitäten und Schulen infiltrieren, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Und seine Sprecherin Donna Loesch höhnt: Die Medien »lieben Massaker«, denn »weinende Mütter sind gut für die Quote.«


Bisher gelang es der mächtigen Waffenlobby immer wieder, nahezu jede Verschärfung des Waffenrechts zu torpedieren. Kaum eine Lobbygruppe in den Vereinigten Staaten ist einflussreicher und aggressiver als die NRA mit ihren rund fünf Millionen Mitgliedern. Ihre finanziellen Ressourcen setzt sie ein, um Kampagnen gegen unliebsame Gesetzgeber in Washington oder in den Bundesstaaten zu finanzieren, treue Abgeordnete zu unterstützen und ihre Kandidaten ins Weiße Haus zu bringen. Allein im Wahlkampf 2016 gab sie fast 55 Millionen Dollar für politische Lobbyarbeit aus. Wer wissen wolle, warum Politiker auf Waffengewalt mit »warmen Gedanken und Gebeten« reagierten, der müsse sich nur die Spendenbücher der NRA anschauen, schrieb die Los Angeles Times. »Der Würgegriff der Schusswaffenlobby auf unsere Volksvertreter braucht aber nicht anzudauern, wenn die Kandidaten sich gegen die Lobby stemmen und die Wähler verlangen, dass Politiker sich für jene Veränderungen einsetzen, die eine Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung will«, schreibt die New York Times. Die Zwischenwahlen im kommenden Herbst seien für die USA eine Chance, diese Botschaft auszusenden.


Der Protest der Jugendlichen, der die Wellen der Diskussion über ein schärferes Waffenrecht hochschlagen lässt, kann dazu beitragen. Neuerdings nehmen selbst aus den Reihen der Unternehmer Forderungen nach Eindämmung der »gun culture« zu. Die Liste der Firmen, die sich öffentlich von der NRA distanzieren, wächst: Die First National Bank of Omaha gibt die »offizielle Kreditkarte der NRA« nicht weiter heraus; Fluglinien wie United oder Delta und der Autoverleiher Hertz schaffen ihre Rabatte für NRA-Mitglieder ab. Der Einzelhandelsriese Walmart erhöhte das Mindestalter für den Kauf von Schusswaffen und Munition auf 21 Jahre. Zuvor hatte die Einzelhandelskette Dick's Sporting Goods angekündigt, keine Sturmgewehre mehr zu verkaufen.


In der US-Bevölkerung vollzieht sich möglicherweise ein Meinungswandel, der sich über lange Jahre politischer Ignoranz langsam entwickelt hat und nun nicht mehr nur von Minderheiten sondern in den Breite der US-Gesellschaft von Mehrheiten artikuliert wird. Laut einer Umfrage der Quinnipiac University in Hamden (Connecticut) im November 2017 sind 94% der US-Amerikaner*innen der Überzeugung, dass der Leumund eines Waffenkäufers überprüft werden soll. 79% der Befragten glauben, dass bei Waffenkäufen eine bestimmte Wartedauer obligatorisch sein müsste. Ferner befürworten 64% ein Verbot von Sturmgewehren sowie von Magazinen mit mehr als zehn Patronen. 63% schließlich meinen, eine Verschärfung der Schusswaffengesetzte sei ohne eine Verletzung der US-Verfassung möglich (Journal 21.ch, 18.2.2018).


In Fort Lauderdale rief Emma Gonzalez den Demonstrierenden zu: »Wir sind die Kinder, über die ihr in Lehrbüchern lesen werdet.« Und: »Nicht weil wir nur eine weitere Statistik der US-Massenschießereien sein werden, sondern weil wir die letzte Massenschießerei sein werden.« Vielleicht ist das zu optimistisch, dennoch kommt darin die richtige Vision zum Ausdruck, dass es höchste Zeit ist und sich lohnt, gegen den Wahnsinn des US-Waffenrechts zu kämpfen. Wollen die Jugendlichen das Waffenkapitel ihrer Generation wirklich umschreiben, werden sie einen langen Atem brauchen. Sie müssen die Unentschlossenen für sich gewinnen, die seit Jahren zwischen den beiden Lagern pendeln. Hoffnungsvoll ist, dass es erstmals berechtigte Anzeichen gibt, dass dies gelingen könnte, dass Zugeständnisse, ja gesetzliche Verschärfungen des Waffenrechts erzwungen werden können. Der Protest der Jugend kommt zur rechten Zeit.

Anmerkungen:

[1] Seit Beginn des Jahres 2018 gab es bereits 18 Vorfälle mit Schusswaffen an Bildungseinrichtungen und nach Angaben von Anti-Waffen-Aktivisten mehr als 290 in den vergangenen fünf Jahren.

[2] www.marchforourlives.com

[3] »Lehrer wollen nicht bewaffnet sein, sie wollen unterrichten«, erklärte Randi Weingarten, Präsident der American Federation of Teachers. »Wir haben nicht die Expertise eines Scharfschützen, und kein Training könnte einen Lehrer dazu befähigen, gegen einen mit einer AR-15 (Schnellfeuergewehr) ausgerüsteten Amokläufer vorzugehen.«

 


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